Die NOMOS ZEITKAPSEL
Sibylle Hoesslers Nomos Zeitkapsel ist Fotografie, Objekt und Konzept zugleich. Die Arbeit entstand im Rahmen eines Stipendiums, das vom Uhrenhersteller
Nomos in Glashütte ausgeschrieben wird. Am Tag der Fertigstellung versiegelte die Künstlerin die schwarze, konisch geformte Box mit der Aufschrift
27.5.2016.
Bis zu diesem Datum, das vom Zeitpunkt ihres Abschlusses genau sieben Jahre in der Zukunft liegt, bleibt diese Black Box ungeöffnet und ihr Inhalt ein Rätsel.
Denn selbst die konkret scheinende Information, dass es sich um 60 Polaroidaufnahmen handle, auf denen die Mitarbeiter der Firma,
ihr Arbeitsumfeld - Fertigungsstätten, Büros und Arbeitswege sowie die Glashütter Umgebung des Unternehmens abgebildet seien, nimmt der Nomos
Zeitkapsel wenig von ihrem Geheimnis.
Sieben Jahre lang werden diese Bilder fürr die Betrachter des Werkes ausschließlich vorstellbar sein. Um in der Zwischenzeit mit dem rätselhaften Objekt umzugehen, stellt der Satz des französischen Mathematikers und
Philosophen René Thom einen interessanten Ausgangspunkt dar:
"Der einzig denkbare Weg, um das Innere einer Black Box aufzudecken,
ist, damit zu spielen."
Man lasse sich also vom hermetischen Äußeren der schwarzen Kiste nicht
von der Beschäftigung mit ihr abbringen, sondern drehe und wende sie,
stelle sie auf den Kopf, stülpe sie um, verbaue und benutze sie.
Als Spieler lassen sich die Fragen nach Erscheinung, Symbolgehalt,
Themen, Technik, Entstehungszusammenhang sowie Präsentationsort des Werkes ins gedankliche Spielfeld führen und miteinander verflechten.
Die Nomos Zeitkapsel ist zunächst ein Experiment mit der Zeit, das an einen sehr spezifischen Ort - die Produktionsstätte von Uhren in Glashütte und einen konkreten sozialen Kontext das Unternehmensgefüge von Nomos -gebunden ist. Über sieben Jahre wird die Arbeit in einem der Herstellungsräume des Glashütter Uhrenwerks installiert und umgeben von der Bewegung der Produktion, vom Wandel in Personal und Technik sowie vom Arbeitsalltag der Angestellten ihre stille Wirkung entfalten. Als Gegenpol zur geschäftigen Herstellung von Messgeräten für Zeit um sie herum, dient die Nomos Zeitkapsel der fotografischen Konservierung einer Welt, wie sie 2016 nicht mehr sein wird. Gleichzeitig erinnert sie die Menschen, die tagtäglich neben ihr arbeiten ebenso wie die, die von dem Werk erfahren, an eine nahe Zukunft und fordert zum Nachdenken über diese heraus.
Die Frage, wie sich das Phänomen Zeit überhaupt darstellen lässt, beantwortet Sibylle Hoessler durch die Nomos Zeitkapsel über sieben Jahre mit einem Rätsel und danach mit der Beschreibung von Veränderung aus dem Abgleich von fotografisch dokumentiertem Gestern und gelebtem Heute. Die Zeitspanne von sieben Jahren markiert darüber hinaus einen symbolischen Raum. Die christliche Chiffre der Kreation bildet in Jahren den sprichwörtlichen Takt für Veränderung. Das Nachdenken über die Zeitlichkeit von Ereignissen und Strukturen löst das individuell Erlebte aus seinem unmittelbaren Kontext heraus und erhebt es in eine allgemein menschliche Sphäre.
Eine ähnliche Dynamik liegt dem Medium der Fotografie und insbesondere der Polaroidfotografie mit ihrem speziellen technischen Verfahren und ihrer ganz eigenen Ästhetik zugrunde. Denn das Polaroid schließt das Moment der Ikonisierung des Gegenwärtigen als bereits Vergangenem und damit seine Abstraktion automatisch mit ein. Gleichzeitig erfüllt das Polaroid immer auch eine Beweisfunktion für die Realität der Ereignisse. Was entsteht, ist ein Archiv von Zeitlichkeiten. Dieses findet bereits im konischen Äußeren der Nomos Zeitkapsel seinen Ausdruck, deren trapezförmige Grundfläche die Form einer Polaroidkassette aufnimmt.
Der Aspekt der Konservierung wird potenziert, wenn man bedenkt, dass die Produktion von Polaroids 2006 eingestellt wurde. Die Rezeption von Polaroidfotografien wird deshalb im Jahr 2016 umso stärker von ihrer Anmutung eines vom technischen Fortschritt erholten Reliktes geprägt sein.
Die Bestandsaufnahme des konkreten Zeit- und Lebensabschnittes des vom Unternehmen Nomos gebildeten sozialen Körpers realisierte Sibylle Hoessler mit einer speziellen Polaroidkamera der SX-70 Land Camera. Dieses Modell wurde 1972 als erste allgemein verfügbare Polaroidkamera herausgebracht. Der Name setzt sich aus der ursprünglich geheimen Aktenbezeichnung S(pecial) X(periments) zusammen, unter welcher der Apparat damals für das amerikanische Militär entwickelt wurde. Die Assoziation zur Black Box als Behältnis für das hoesslersche Zeitexperiment eröffnet in dieser Kombination einen weiteren Gedankenspielraum.
In der freien Verknüpfung von persönlicher Erfahrung und Assoziation, Wissen und Gedankenspiel vollzieht sich die Nomos Zeitkapsel bereits vor ihrer zukünftigen Erfüllung als Reflexionsraum individueller, kultureller und gesellschaftlicher Prozesse. Denn alles, was man nicht sieht, kann man denken.
Susanne Husse, im Juli 2009
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